
Dank zahlreicher Übersetzungen ist der serbische Schriftsteller Dragan Velikić auch einem deutschsprachigen Publikum bekannt. In Sombor stellte er jetzt seinen neuen Roman „Adresa“ vor.
Um was geht es in Ihrem neuen Buch „Adresa“, zu deutsch „Adresse“?
Dragan Velikić: „Adresa“ ist ein Belgrader Roman. In dem Buch gibt es drei Ströme, die ineinander fließen: einer ist die Geschichte Belgrads als tragischer Held. Von der Keltenzeit über die Türken bis heute hat die Stadt immer wieder Zerstörung und Gewalt erlebt. Der zweite Strom ist die Hauptfigur Vladan Todorović. Er ist Dokumentator im Belgrader Postmuseum. Durch ihn und seine Arbeit erfahren wir viel über Serbien und seine Strukturen, die sich in einem so komplexen System wie dem des Postwesens hervorragend widerspiegeln. Der dritte Strom ist eine politische Chronik des Jahres 2018 in Serbien.
Ist Vladan aus dem Postmuseum eine erzählende Figur?
Velikić: Sein Traum ist es, ein Buch über Belgrad zu schreiben. Aber er ist kein Schriftsteller. Er ist ein Träumer, ein guter Geist von Belgrad. Während er durch Straßen und Parks spaziert, hält er in feinen Nuancen seine Beklommenheit fest, schreibt ein Dossier von der Stadt und sich darin. Er träumt davon, einmal durch seine Stadt zu spazieren, ohne überall die mehr oder weniger sichtbaren Verwundungen und Narben einer langen, schmerzhaften Geschichte zu sehen. Aber er sieht sie alle. Auch all die schlimmen Dinge, für die es heute kein Denkmal, keine Gedenktafel gibt.
Stereotypen über Serbien brechen auf
Wie finden Sie die Protagonisten für Ihre Romane? Gibt es den Dokumentator im Postmuseum wirklich?
Velikić: Ja und nein. Um etwas über das serbische Postsystem zu lernen, habe ich mich zwei Jahre lang mit einem Archivar aus dem Postmuseum in Belgrad getroffen und unterhalten. Er hat mehrere Bücher über die Post geschrieben und weiß einfach alles. Einerseits gibt es ihn real, anderseits ist es im Buch nicht seine wirkliche Geschichte. Ich lasse ihn vielmehr durch die Kulisse spazieren. So, wie Alfred Hitchcock manchmal in seinen Filmen durch die Szene gelaufen ist. Der Archivar, Mile sein Spitzname, öffnet für mich die Schatztruhe mit all den Geschichten und Begebenheiten rund um das serbische Post- und Telegraphensystem – von seinen Anfängen bis heute.
Ist eine deutsche Übersetzung geplant?
Velikić: Ja, das denke ich. Mascha Dabić ist eine wunderbare Übersetzerin, die auch schon andere Romane von mir ins Deutsche übertragen hat. Ich hoffe, sie wird auch „Adresa“ bald für meinen deutschen Verlag übersetzen.

Wir haben schon einmal ein Interview geführt (Link hier) – vor rund 18 Jahren 2001 in Belgrad. Damals war der Krieg zwei Jahre vorbei, das Land hieß noch Jugoslawien und das Volk hatte gerade Slobodan Milošević verjagt. Lässt sich zusammenfassen, wie sich Serbien seit dem verändert hat?
Velikić: Der Wendepunkte war sicherlich die Ermordung von Ministerpräsident Zoran Đinđić 2003. Ich habe damals in der FAZ geschrieben: „Es beginnt eine lange Nacht für Serbien.“ Ich sage immer, unsere Temperatur beträgt 37,2 Grad. Das ist leichtes Fieber. Aber ich bin Optimist – mit 65 muss man Optimist sein, aber für die Jugend gibt es heute keine Perspektive.
Sie waren von 2005 bis 2009 Botschafter Serbiens in Österreich. Verfolgen Sie noch die aktuelle Politik dort und den Ibiza-Skandal?
Velikić: Ja, selbstverständlich. Wissen Sie, solche Skandale gibt es überall. Manche werden öffentlich, manche nicht. Aber was sehen wir aktuell in Österreich: Es ist eine funktionierende Demokratie. Die Regierung hat einen Scherbenhaufen hinterlassen. Doch die staatlichen Institutionen sind stark und arbeiten den Fall ab, die Verfassung gibt vor, was zu tun ist und am Ende gibt es eine vom Volk legitimierte neue Regierung. Das alles macht einen funktionierenden Rechtsstaat aus. Das ist für einen Serben wunderbar anzusehen.
Velikić: Ich mag Sombor
Viele Ihrer Bücher sind ins Deutsche übersetzt worden, Sie sprechen sehr gut Deutsch und sind oft in Deutschland. Welches Bild haben ihre deutschen Gesprächspartner von Serbien? Hat es sich über die Jahre verändert?
Velikić: Ich denke, nach 20 Jahren hat sich das alte Schwarz-Weiß-Bild etwas verändert. Das hat auch viel mit dem Tourismus zu tun. Früher kamen nur Abenteurer nach Serbien. Heute kommen die jungen Leute wie selbstverständlich nach Belgrad, und an der Donau fahren die Radfahrer quer durch Serbien von Passau bis an Schwarze Meer. Stereotypen bricht man am besten durch eigene Erfahrungen auf.
Sie waren in der Vergangenheit schon häufiger in Sombor. Welches Bild haben Sie von der Stadt?
Velikić: Sombor war immer ein stiller Anker für mich. Sombor ist ein bisschen größer als viele der kleinen Städte in der Vojvodina – hier muss kein Belgrader klaustrophobisch werden. Und Sombor hat Charme – nur die Autobahn könnte etwas näher an die Stadt führen. Und schließlich kommt Sombor auch in meinem Roman „Das russische Fenster“ vor. Wenn es auch nicht explizit genannt ist, so weiß doch jeder, dass die Mutter der Hauptfigur Schneiderin am Theater in Sombor ist. Sombor ist für mich wie ein Fest. Ich mag Sombor.

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