
Heute vor 13 Jahren, am 12. März 2003, wurde der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Serbiens, Zoran Đinđić, in Belgrad ermordet. Im Januar 2001 hatte Đinđić das Amt übernommen. Damals herrschte in der serbischen Hauptstadt nach dem Sturz von Slobodan Milošević eine Aufbruchstimmung. Es war eine Zeit des Wandels, des Neuanfangs. Ich war zu dieser Zeit in Belgrad und traf mich mit dem bekannten Schriftsteller und Journalisten Dragan Velikić und sprach mit ihm über Veränderungen und Hoffnungen. Was ist aus Velikićs Hoffnungen und Erwartungen von damals geworden?
Es ist ein heißer Frühlingstag in Belgrad 2001. Im Schatten zeigt das Thermometer 30 Grad. Ich bin mit Dragan Velikić in der Nähe seiner Wohnung verabredet. Am nächsten Tag will er heiraten. Wir sitzen bei Bier unter den Sonnenschirmen einer Kneipe in einer kleinen Belgrader Seitenstraße. Wir reden über das Leben und die Politik nach Krieg und Revolution.
Zur historischen Einordnung: Im Oktober 2000 war Präsident Slobodan Milošević gestürzt worden. Vojislav Koštunica wurde sein gewählter Nachfolger. Im Januar 2001 wurde Zoran Đinđić zum Ministerpräsidenten gewählt.
Wir sind in der Bundesrepublik Jugoslawien
Politisch befinden wir uns in der Bundesrepublik Jugoslawien. Sie bestand von 1992 bis 2003, war der größte Nachfolgestaat der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und bestand aus Serbien und Montenegro. Später wurde aus der Bundesrepublik der Staatenbund Serbien-Montenegro, der 2006 zerfiel.
Velikić war damals voller Hoffnung, dass sich nun alles zum Besseren wendet. Er war Mitarbeiter mehrerer Wochenzeitschriften und Redakteur bei Radio B92 in Belgrad. Bis auf die Zeit seiner vorübergehenden Emigration während des Kosovokrieges 1999 nach Wien und Budapest, war er einer der wichtigsten kritischen Journalisten der Milošević-Zeit gewesen.
Wirtschaftliche Stabilität war für ihn eines der wichtigsten Ziele nach der Machtübernahme der Reformer. Dass das Kosovo-Thema die nächsten Jahre weiter politisch dominieren würde, ahnte er bereits. Sein Vorschlag von 2001: Ein kleinerer Teil bleibt bei Serbien und ein größerer Teil wird autonom oder kommt zu Albanien.
Nun, es kam etwas anders. Albaner und Serben wurden zusammen in einen Staat gepresst. Ein Experiment, das heute wirtschaftlich und sozial als gescheitert betrachtet werden muss. Ein zweites Bosnien-Herzegowina ist entstanden.
Velikić: „Es wird nicht mehr militärisch kalkuliert“
Als wichtigste Errungenschaft der neue Regierung unter Đinđić sah der Schriftsteller das langsam zurückkommende Vertrauen der Staatengemeinschaft an: „Die neue Regierung versucht, Probleme diplomatisch anzugehen und zu lösen. Es wird nicht mehr militärisch kalkuliert. Europa sieht diesen Unterschied.“
Dass es viel Zeit brauchen wird, um das Serbien-Bild in den Köpfen zu ändern, war ihm schon 2001 klar: „Das ist ein Prozess, der zehn Jahre braucht. Die wenigen Journalisten, die nach Belgrad kommen, sind überrascht von der Normalität des Lebens hier.“
Aus heutiger Sicht muss man sagen, zehn Jahre haben noch lange nicht gereicht.
In die Politik wollte Velikić damals übrigens nicht gehen. „Ich möchte mir auch weiterhin die Freiheit nehmen können, zu sagen, was ich denke. Das ist das Wichtigste für Künstler und Schriftsteller.“ So ganz treu ist er sich nicht geblieben. Von 2005 bis 2009 war er serbischer Botschafter in Wien.
Das Thema Flüchtlinge ist heute so aktuell wie damals: 2001 kamen sie aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Heute kommen sie aus Syrien, Irak oder Afghanistan nach Serbien.
Das komplette Velikić-Interview von 2001:
Was hat sich verändert, als Sie nach zwei Jahren im Budapester Exil wieder nach Belgrad kamen?
Dragan Velikić: „Belgrad ist durch die Flüchtlinge eine große Stadt geworden und hat die Ausdehnung deutscher Großstädte erreicht. Nach der Machtübernahme durch die Opposition ist zudem wieder Geld ins Land gekommen. Dazu viele Busse aus Deutschland, um den öffentlichen Personenverkehr aufrecht zu halten. An vielen Omnibussen prangt noch deutsche Werbung, und es stehen deutsche Ortsnamen auf den Schildern. Die Linie 65 fährt immer nach Puckendorf. Das ist lustig. Auch hat man den Eindruck, es gibt plötzlich viel mehr Kinder in Belgrad, denn an jedem zweiten Bus hängt noch das Schild ,Schulbus’.“
Ist das bisherige Maß an politischer Veränderung ausreichend?
Velikić: „Die kleinen Miloševićs laufen immer noch herum. Die Aterien des politischen Apparates wurden zwar ausgetauscht, aber bei den kleinen Kapillargefäßen dauert es etwas länger. Es ist wichtig, dass es keine ökonomischen Rückschritte gibt, damit die Reste des alten Regimes nicht sagen können ,seht her, ihr könnt es auch nicht besser’ und die Unzufriedenheit ausnutzen.“
Und wie sieht es wirtschaftlich aus?
Velikić: „Bei der Machtübernahme durch die Opposition war der Staat bankrott und die Kassen in den Banken leer. Ein Erfolg ist schon, dass das Voranschreiten von Chaos und Verfall gestoppt wurden. So ist der Kurs für eine Mark stabil auf 30 Dinar festgesetzt. Unter Milošević schwankte er täglich. Viele sind aber noch nicht zufrieden und hoffen, dass es ihnen wieder wirtschaftlich besser geht – so wie früher einmal. Darum ist auch die Unterstützung des Westens wichtig.“
Welches Problem würden Sie als erstes angehen?
Velikić: „Eine Lösung für das Kosovo finden. Für Politiker ist es unpopulär zusagen, Kosovo wird nicht bei Serbien bleiben. Die Lösung wird aber sein, dass ein kleinerer Teil bei Serbien bleibt und ein größerer Teil autonom wird oder zu Albanien kommt. Das Problem der Westeuropäer und der USA ist, dass sie den serbischen Nationalismus gestoppt haben, jetzt aber mit dem albanischen Nationalismus zu kämpfen haben. Das offenbart sich in Süd-Serbien und Mazedonien. Das, was Milošević früher in Bosnien-Herzegowina wollte – die serbischen Gebiete an Serbien anschließen –, versuchen jetzt die Albaner im Süden Serbiens und den angrenzenden Staaten.“
Ein wichtiges Merkmal der neuen Regierung ist?
Velikić: „In Jugoslawien wird eine andere politische Sprache gesprochen. Die neue Regierung versucht, Probleme diplomatisch anzugehen und zu lösen. Es wird nicht mehr militärisch kalkuliert. Europa sieht diesen Unterschied.“
Wie wird Ihrer Ansicht nach das Ringen um die Auslieferung von Milošević an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgehen?
Velikić: „In Den Haag wird er nur für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen, in Serbien nur für Verstöße gegen unsere Gesetze. Eine gute Lösung wäre, ihn erst in Serbien vor Gericht zu stellen und ihn dann auszuliefern. Jetzt würde es gegen eine Auslieferung auch noch Proteste geben. Doch es werden jeden Tag weniger Leute, die nichts dagegen hätten, ihn auszuliefern. Es läuft aber wohl auf einen Deal hinaus, was der Westen uns für eine Auslieferung gibt.“
War die Bombardierung der chinesischen Botschaft ein Versehen oder Absicht?
Velikić: „Das war sicher kein Zufall. Die Amerikaner sagen, sie hätten alte Karten gehabt, aber die Botschaft ist lange genug an dieser Stelle und mit moderner Satellitenaufklärung ist die rote Flagge davor sogar aus dem Weltall zu sehen. Der Nato sind immer dann solche Fehler unterlaufen, wenn ein Frieden in Sicht war.“
Während des Krieges rangierten die Serben auf der Skala des Bösen direkt hinter dem irakischen Diktator Saddam Hussein. Wie erleben Sie heute im Ausland das Bild von Serbien?
Velikić: „Die neue Regierung trägt viel dazu bei, dass sich dieses Bild ändert. Das ist aber ein Prozess, der zehn Jahre braucht, um die Stereotypen in den Köpfen zu ändern. Die wenigen Journalisten, die nach Belgrad kommen, sind überrascht von der Normalität des Lebens hier.“
Drängt es Sie als ehemaliger Regimegegner nun in die Politik?
Velikić: „Ich war noch nie Mitglied einer Partei. Ich möchte mir auch weiterhin die Freiheit nehmen können, zu sagen, was ich denke. Das ist das Wichtigste für Künstler und Schriftsteller.“
Wird Ihr neues Buch „Der Fall Bremen“ auch wieder auf Deutsch erscheinen?
Velikić: „Ja, Anfang 2002 im Ullstein-Verlag. Die Helden sind ein Straßenbahnfahrer, ein Klavierstimmer und ein Rezeptionist. Ihre Erlebnisse in verschiedenen Städten Europas sind Metaphern für politische und gesellschaftliche Veränderungen. In Teilen ist es auch autobiographisch und erzählt das Schicksal meines Vaters als Zwangsarbeiter in Bremen.“

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